Psalm (Ps) 22: Auslegung und Kommentar
Auslegung und Kommentar zum Psalm (Ps) 22: Leiden und Herrlichkeit Christi
Ps 22,2: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Das ist ein Ruf, den der sterbende Jesus am Kreuz ausstieß. Er bringt die ganze trostlose Lage des Messias, des Sohnes Gottes zum Ausdruck, der dem Drama des Todes gegenübersteht, einer Wirklichkeit, die in völligem Gegensatz zum Herrn des Lebens steht. Fast gänzlich von den Seinen verlassen, von den Jüngern verraten und verleugnet, umgeben von Menschen, die ihn beleidigen, steht Jesus unter der erdrückenden Last einer Sendung, die durch Erniedrigung und Tod hindurchführen muß. Darum ruft er zum Vater. Aber sein Ruf ist kein verzweifelter Ruf. Er beschreitet in seiner Bitte einen qualvollen Weg, der am Ende des Psalms jedoch in den Lobpreis einmündet, in das Vertrauen auf den göttlichen Sieg. Benedikt XVI
Ps 22,3: Mein Gott, Tag und Nacht rufe ich zu dir um Hilfe, aber du antwortest nicht und schenkst mir keine Ruhe.
Das ist ein Appell, der an einen Gott gerichtet ist, der fern zu sein scheint, der nicht antwortet und der ihn scheinbar verlassen hat. Gott schweigt, und dieses Schweigen zerreißt das Herz des Beters, der unablässig ruft, aber keine Antwort findet. Tage und Nächte vergehen, in einer unermüdlichen Suche nach einem Wort, nach einer Hilfe, die nicht kommt. Gott scheint so fern, so abwesend zu sein, scheint ihn vergessen zu haben. Das Gebet bittet um Hören und Erhörung, es will einen Kontakt herstellen, es sucht nach einer Beziehung, die Trost und Heil spenden kann. Aber wenn Gott nicht antwortet, dann verhallt der Hilferuf im Leeren, und die Einsamkeit wird unerträglich. Und dennoch nennt der Beter unseres Psalms in seinem Ruf den Herrn gleich dreimal mein Gott, in einem Akt äußersten Vertrauens und Glaubens. Allem Anschein zum Trotz kann der Psalmist nicht glauben, daß die Verbindung mit dem Herrn vollkommen abgebrochen ist. Benedikt XVI
Ps 22,4: Du bist doch der heilige Gott! Du bist es, dem das Volk Israel seine Loblieder singt.
Ps 22,5: Auf dich haben unsere Väter vertraut; sie vertrauten, und du hast sie errettet.
Das Volk, dem der Beter angehört, war Gegenstand der Liebe Gottes und kann seine Treue bezeugen. Begonnen bei den Erzvätern und dann in Ägypten und in der langen Pilgerschaft in der Wüste, im Aufenthalt im Gelobten Land, wo es mit aggressiven und feindlichen Völkern in Berührung kam, bis hin zur Finsternis der Verbannung war die ganze biblische Geschichte eine Geschichte der Hilferufe des Volkes und der rettenden Erhörung durch Gott. Und der Psalmist erwähnt den unerschütterlichen Glauben seiner Väter: Sie vertrauten. Dieses Wort wird dreimal wiederholt. Ja: Dreimal nacheinander wird es hervorgehoben: sie vertrauten, sie vertrauten, sie vertrauten. Sie ließen sich vom Vertrauen nicht abbringen; denn das war ihr Lebenselement.
Ps 22,6: Zu dir schrien sie und wurden gerettet. Sie vertrauten dir, und du hast sie nicht enttäuscht.
Ps 22,7-8: Ein Wurm bin ich, kein Mensch mehr, nur noch Hohn und Spott hat man für mich übrig. Alle Leute machen sich über mich lustig. Wer mich sieht, verzieht sein Gesicht und schüttelt verächtlich den Kopf.
Der Herr wurde gegeißelt und niemand kam zu Hilfe. Er wurde mit Speichel besudelt und niemand kam zu Hilfe. Er wurde geohrfeigt und niemand kam zu Hilfe. Er wurde mit Dornen gekrönt und niemand kam zu Hilfe. Er wurde ans Kreuz geschlagen und niemand rettete ihn. Nichts! Keine Hilfe. Warum? Um welchen Lohn hat er das alles gelitten? All das, was er gelitten hat, ist ein Kaufpreis. Wofür?
Bedenke, was für ein Preis für dich bezahlt worden ist und du wirst keines Menschen Knecht sein; das Kreuz nennt er nämlich einen Kaufpreis. Man darf das Kreuz aber nicht einfach nur mit dem Finger machen, sondern zuerst mit dem Herzen, voll innigen Glaubens. Chrysostomus
Ps 22,9: Überlass Gott deine Not!, lästern sie, der soll dir helfen und dich retten! Er liebt dich doch, oder etwa nicht? Ps 22:9
Ps 22,10: Du, Herr, hast mich aus dem Leib meiner Mutter gezogen. Schon an ihrer Brust hast du mich Vertrauen gelehrt.
Gott war dennoch im Leben des Beters gegenwärtig, mit unbestreitbarer Nähe und Liebe. Der Herr ist der Gott des Lebens, der das neugeborene Kind zur Welt kommen läßt und es mit väterlicher Liebe umsorgt. Und wenn vorher die Treue Gottes in der Geschichte des Volkes ins Gedächtnis gerufen wurde, so ruft der Beter jetzt seine persönliche Geschichte der Beziehung zum Herrn in Erinnerung, indem er zu dem besonders bedeutenden Augenblick des Beginns seines Lebens zurückkehrt. Dort erkennt der Psalmist trotz der Trostlosigkeit der Gegenwart eine göttliche Nähe und Liebe, die so tief verwurzelt sind.
Ps 22,11: Du bist mein Gott, seitdem mein Leben begann. Seit der Stunde meiner Geburt bin ich auf dich angewiesen.
Ps 22,12: Bleib mir jetzt doch nicht fern! Groß ist meine Angst! Weit und breit gibt es keinen, der mir hilft.
Die einzige Nähe, die der Psalmist spürt und die ihn erschreckt, ist die der Feinde. Daher muß Gott zu ihm kommen und ihm beistehen, denn die Feinde umgeben den Beter, sie umringen ihn, und sie sind wie mächtige Stiere, wie Löwen, die den Rachen aufsperren, um zu brüllen und zu reißen. Die Feinde scheinen unbesiegbar, sie sind zu wilden, gefährlichen Tieren geworden, während der Psalmist gleichsam ein kleiner, machtloser, wehrloser Wurm ist. Diese Bilder sollen auch zum Ausdruck bringen, daß im Menschen, wenn er brutal wird und seinen Bruder angreift, etwas Animalisches die Oberhand gewinnt und er alle menschlichen Züge zu verlieren scheint. Die Gewalt birgt immer etwas Bestialisches in sich, und nur das rettende Eingreifen Gottes kann dem Menschen seine Menschlichkeit zurückgeben.
Ps 22,13: Es umringen mich große Stiere.
Ps 22,14: Sie sperren ihr Maul gegen mich auf wie ein reißender und brüllender Löwe.
Ps 22,15: Meine Kraft schwindet wie Wasser, das versickert, und alle meine Knochen sind wie ausgerenkt. Mein Herz verkrampft sich vor Angst.
Für den Psalmisten, der so grausamen Angriffen ausgesetzt ist, scheint es nunmehr kein Entrinnen zu geben, und der Tod beginnt, von ihm Besitz zu ergreifen. Mit dramatischen Bildern, die wir in den Berichten von der Passion Christi wiederfinden, wird die Vernichtung des Leibes des Verurteilten beschrieben, der unerträgliche brennende Durst, der den Sterbenden quält und der einen Widerhall findet in der Bitte Jesu: Mich dürstet.
Ps 22,16: Meine ganze Kraft ist dahin, verdorrt wie eine staubige Tonscherbe. Die Zunge klebt mir am Gaumen. Du lässt mich im Tode versinken.
Ps 22,17: Hände und Füße haben sie mir durchbohrt.
Seht den Menschen, welchen ihr gekreuzigt habt; seht die Wunden, welche ihr geschlagen; erkennet die Seite, welche ihr durchbohrt habt; denn durch euch und euertwegen wurde sie geöffnet. Jesus hat uns mit einem menschlichen Herzen gekannt und geliebt. Sein Herz, das um unseres Heiles willen durchbohrt wurde, ist das Symbol jener unendlichen Liebe, mit der er den Vater und jeden Menschen liebt.
Christsein bedeutet nicht etwa, sich selbst sehr anzustrengen, sondern sich den durchbohrten Händen Jesu anzuvertrauen. Corrie ten Boom
Ps 22,19: Schon teilen sie meine Kleider unter sich auf und losen um mein Gewand.
Jesus, meine Liebe! Deiner Kleider beraubt, stehst du da mit einem zerfleischten Leib, aber mit der Sanftmut eines Lammes, das zur Schlachtbank geführt wird. Dein ganzer Leib erzittert. Es presst sich mir das Herz vor Schmerz zusammen, da ich wahrnehme, dass das Blut aus allen Teilen deines heiligsten Leibes dringt.
Ganz entblößt ist nun der Herr, von allem gänzlich entäußert, in vollkommenster Armut. Nur das Kreuz ist sein eigen. Christus ist der Weg, um zu Gott zu gelangen aber der Christus am Kreuz. Und um das Kreuz zu besteigen, muß das Herz frei sein, losgelöst vom Irdischen. Josemaria
Ps 22,20: Herr, wende dich nicht länger von mir ab! Nur du kannst mir neue Kraft geben, komm mir schnell zu Hilfe!
Dieser Ruf öffnet die Himmel. Er verkündigt einen Glauben, eine Gewißheit, die über jeden Zweifel, jede Finsternis und jede Verzweiflung erhaben ist. Und die Klage verwandelt sich, macht dem Lobpreis Platz in der Annahme des Heils. So öffnet sich der Psalm zur Danksagung, zum großen abschließenden Lobgesang. Der Herr ist zu Hilfe gekommen, er hat den Armen errettet und ihm sein barmherziges Antlitz gezeigt. Tod und Leben sind einander begegnet, in einem untrennbaren Geheimnis, und das Leben hat triumphiert, der Gott des Heils hat sich als unbestrittener Herr erwiesen. Es ist der Sieg des Glaubens, der den Tod in das Geschenk des Lebens umwandeln kann, den Abgrund des Schmerzes in einen Quell der Hoffnung.
Ps 22,22: Du hast mich erhört!
Ps 22,23: Ich will meinen Brüdern deinen Namen bekannt machen, vor der ganzen Gemeinde will ich dich loben.
Der Name Gottes, sein Wesen und sein Walten, wird durch das Evangelium Jesu Christi der ganzen Welt kundgemacht. Zur Demut und Verehrung wird aufgerufen. Demut aber besteht darin, dass man nicht nur freiwillig seine Niedrigkeit anerkennt, sondern sie liebt und gern auf sich nimmt. Sei eine Blume unter vielen, ohne dich für etwas Besseres zu halten. Denke stets daran, was Gott dich in deiner Schönheit als Kind Gottes geschaffen hat und dir unzählbar Gutes tut. Sei dankbar, was er dir alles gegeben hat. Was haben wir denn Gutes, das wir nicht empfangen hätten? Demut heißt nicht, sich vor Menschen bücken, sondern Gott allein die Ehre geben.
Ps 22,24: Begegnet ihm mit Demut und Verehrung.
Ps 22,27: Die Armen sollen wieder essen und satt werden. Die den Herrn suchen, sollen ihn preisen. Euer Herz lebe auf, es lebe ewig!
Die Armen essen und werden gesättigt. Es ist die weltweite Eucharistie, die aus dem Kreuz hervorgeht. Nun sättigt Gott weltweit die Menschen, die Armen, die seiner bedürfen. Er gibt ihnen die Sättigung, die sie brauchen: Gott selbst, sich selbst. In diesem Mysterium wird die Liebe Christi immer mitten unter uns greifbar. Hier gibt er sich immer wieder hin. Hier läßt er sein Herz immer wieder durchbohren; hier hält er seine Verheißung aufrecht, die Verheißung, daß er vom Kreuz her alles an sich ziehen wird. In der Eucharistie erlernen wir selber die Liebe Christi.
Ps 22,28: Alle Völker werden sich vor ihm niederwerfen.
Ps 22,29-30: Der Herr ist König. […] Vor ihm werden ihre Knie beugen alle.
Jetzt ist es geschehen. Durch das Kreuz Christi ist Gott zu den Völkern gekommen, aus Israel hinausgegangen, der Gott der Welt geworden. Und nun beugt der Kosmos die Knie vor Jesus Christus, was auch wir heute in wunderbarer Weise erleben dürfen: In allen Kontinenten, bis in die einfachsten Hütten hinein, ist der Gekreuzigte gegenwärtig. Der Gott, der gescheitert war, bringt nun durch seine Liebe den Menschen wirklich dazu, die Knie zu beugen, und überwindet so die Welt mit seiner Liebe.
Ps 22,31: Die kommenden Generationen werden ihm dienen, eine wird der nächsten von ihm erzählen.
Ps 22,32: Selbst die Menschen, die noch nicht geboren sind, werden von seinen gerechten Taten hören, und man wird sagen: Der Herr hat es vollbracht!
Es ist vollbracht! In dem Geheimnis seines Gehorsams bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz wurde der neue und ewige Bund verwirklicht. In seinem gekreuzigten Leib haben sich die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen in einem unauflöslichen, immerwährenden Bündnis endgültig zusammengefunden. Auch die Sünde des Menschen ist durch den Sohn Gottes ein für allemal gesühnt worden. In seinem Tod am Kreuz vollzieht sich jene Wende Gottes gegen sich selbst, in der er sich verschenkt, um den Menschen wieder aufzuheben und zu retten: Liebe in ihrer radikalsten Form.
Laß mich, Herr, doch erkennen und einsehen, was zuerst kommt: Dich anzurufen und dann Dich zu loben oder zuerst Dich zu erkennen und dann Dich anzuru anzurufen? Aber wer ruft Dich an ohne Dich zu kennen? Denn er könnte ja, wenn er Dich nicht kennt, das eine für das andere anrufen. Aber ruft man Dich nicht an, um Dich zu erkennen? Es heißt doch: ‚Wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben?‘ (Röm 10,14) ‚Den Herrn sollen preisen, die Ihn suchen.‘ (Ps 22,27) Denn wenn sie Ihn suchen, werden sie Ihn finden, und wenn sie Ihn gefunden haben, werden sie Ihn loben. Ich will Dich suchen, Herr, indem ich Dich anrufe, und ich will Dich anrufen, indem ich an Dich glaube. Denn verkündet wurdest Du uns! Der Glaube, Herr, den Du mir gegeben, den Du mir eingehaucht hast durch die Menschheit Deines Sohnes und durch das Amt Deines Verkünders, er ruft Dich an. Augustinus
Das war eine Auslegung und ein Kommentar zum Psalm (Ps) 22