Wiederkäuens / ruminatio
Inhaltsverzeichnis
Zur Kunst des Wiederkäuens
Eine spirituelle Praxis der Wüstenväter
In den stillen Weiten der ägyptischen Wüste, fernab von den Stimmen der Welt, lebten die Wüstenväter – frühe christliche Mönche, die das geistliche Leben in radikaler Einfachheit suchten. Unter den vielen spirituellen Praktiken, die sie pflegten, war das Wiederkäuen von Bibelversen, das ruminatio, eine der tiefgründigsten und bis heute inspirierenden Methoden.
Doch was bedeutet „Wiederkäuen“ in diesem Zusammenhang?
Mehr als bloßes Wiederholen
Der Begriff ruminatio stammt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich „wiederkäuen“ – wie es die Tiere tun. Übertragen auf die geistliche Praxis bedeutet es, dass der Mönch oder die Nonne sich einen kurzen Vers der Heiligen Schrift auswählt, diesen immer wieder wiederholt, in Gedanken bewegt, nachkaut und die Bedeutung in sich aufnehmen lässt. Es ist ein meditatives Kauen an den Worten Gottes, ein langsames, liebevolles Eindringen in die Tiefe der göttlichen Weisheit.
Der Ablauf der Ruminatio
Die Praxis des Wiederkäuens folgt einem einfachen, aber wirkungsvollen Muster:
- Auswahl eines Verses: Meist wurde ein kurzer, prägnanter Vers aus den Psalmen, den Evangelien oder den Paulusbriefen gewählt.
- Wiederholung mit dem Mund: Der Vers wird leise oder flüsternd ausgesprochen, immer wieder. Das laute Rezitieren hilft, die Worte zu verinnerlichen und nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit Herz und Leib aufzunehmen.
- Nachsinnen und Verweilen: Nach der anfänglichen Wiederholung tritt eine Phase der Stille ein. Hier verweilt man bei den Worten, fragt sich, was Gott sagen will, und lauscht. Die Gedanken dürfen kreisen, bis sie zur Ruhe kommen.
- Herzensgebet: Aus dem meditativen Nachdenken kann ein kurzes, persönliches Gebet erwachsen, ein innerer Dialog mit Gott.
Die Bedeutung für das geistliche Leben
Für die Wüstenväter war das Wiederkäuen eine Schule der Achtsamkeit und der Herzensbildung. Sie wussten, dass der Mensch nicht nur vom Brot lebt, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt (vgl. Matthäus 4,4). Die Praxis half ihnen, die Worte der Heiligen Schrift nicht nur zu lesen oder zu studieren, sondern sie buchstäblich zu „essen“ und ins eigene Leben einzubauen.
Dieses ruminatio führt zu einer tiefen Verinnerlichung der Bibel, lässt sie zum inneren Schatz werden, der auch in Zeiten der Dürre und Versuchung Trost spendet und Orientierung gibt.
Wiederkäuen heute?
Obwohl wir nicht alle in die Wüste ziehen, kann das Wiederkäuen von Bibelversen auch heute eine wertvolle Praxis sein. Inmitten des Lärms und der Ablenkungen unserer Zeit lädt sie dazu ein, sich kleine „Inseln der Stille“ zu schaffen, einen Vers zu wiederholen, ihn in Herz und Sinn aufzunehmen und so die Gegenwart Gottes im Alltag zu suchen.
Warum nicht heute damit beginnen? Wähle einen Vers – vielleicht aus den Psalmen oder den Evangelien – und lass ihn dein inneres Brot für den Tag werden.
Ein Beispiel: Psalm 23,1
Nehmen wir als Beispiel den ersten Vers des bekannten 23. Psalms:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
- Auswahl des Verses: Psalm 23,1 ist kurz, einprägsam und voller Trost.
- Wiederholung mit dem Mund:
Leise sprichst du: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
Vielleicht betonst du jedes Wort anders:- Der HERR ist mein Hirte…
- Der Herr IST mein Hirte…
- Der Herr ist MEIN Hirte…
- Der Herr ist mein HIRTE…
… und spürst, wie der Vers jedes Mal eine andere Facette bekommt.
- Nachsinnen und Verweilen:
In der Stille fragst du:- Was bedeutet es, dass Gott mein Hirte ist?
- Wo habe ich Mangel in meinem Leben?
- Kann ich vertrauen, dass Gott mir gibt, was ich brauche?
- Herzensgebet:
Aus diesen Gedanken wächst ein kurzes Gebet:
„Herr, hilf mir, dir als meinem Hirten zu vertrauen. Sorge du für mich.“