Psalm (Ps) 102: Auslegung und Kommentar
Auslegung und Kommentar zum Psalm (Ps) 102: Fünfter Bußpsalm
Ps 102,1: Gebet eines vom Leid Gebeugten, der verzweifelt ist und sein Herz vor dem Herrn ausschüttet.
Der Psalm ist eine Klage, aber keine Anklage gegen Gott, Ausdruck des Schmerzes, nicht der Empörung. In Leidenszeiten finden wir Trost darin, unseren Kummer mitzuteilen. Wir fühlen uns dadurch erleichtert. Wie süß ist der Trost, zu wissen, dass Gott selbst uns ein Freund sein will, der voll Mitleid unseren Klagen lauscht. Dass wir unsere Klage vor dem HERRN ausschütten ist ein Ausdruck innigen Vertrauens. In seiner Klage öffnet er sein Herz, das Herz öffnet man aber nur jemandem, dem man vertraut. Wir müssen uns an den einzigen Helfer wenden, der dem Menschen gegeben ist.
Ps 102,2: Herr, höre mein Gebet! Möge mein lauter Hilferuf doch bis zu dir dringen!
Ps 102,3: Verbirg dich nicht vor mir, jetzt, wo ich in Not bin! Neige dich herab zu mir und schenk mir ein offenes Ohr. Jetzt rufe ich zu dir. Erhöre mich doch bald!
Ps 102,4: Meine Tage verflüchtigen sich so schnell wie Rauch, in meinen Gliedern brennt es wie Feuer.
Dem Unglücklichen erscheint das Leben nicht nur hinfällig, sondern von so vielem umgeben, das verdunkelnd, beschmutzend, blind machend und niederdrückend wirkt. Schwerer Kummer raubt alle Lust an jeglichem Ding. In vielen Versen wird hier die Not geschildert: ausgetrocknetes Herz, lautes Stöhnen, einsam wie ein Vogel in der Wüste, keinen Schlaf findend usw. Zuletzt kommt der Vergleich mit dem Schatten: Meine Tage sind wie ein gedehnter Schatten, dessen zunehmende Länge seine nahende Auflösung in nächtliches Dunkel verkündet. Die Schatten werden länger, bald wird die Sonne meines Lebens ganz versinken. Kein Bild könnte packender das Gefühl äußerster Hinfälligkeit an schaulich machen.
Ps 102,8: Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.
Bitten um ein schweigendes Herz: Es ist so schwer mit den Lippen zu schweigen, mit dem Herzen noch viel mehr. In mir geht so viel Gerede vor sich. Es ist, als sei ich innerlich ständig in irgendwelche Auseinandersetzungen verwickelt. Diese innere Diskussion beweist, wie weit mein Herz von dir entfernt ist. Wenn ich mir bewusst wäre, dass ich dir und dir allein gehöre, dann würde ich leicht aufhören können mit all den wirklichen oder vermeintlichen Gesprächspartnern zu diskutieren. Herr gib mir dieses Schweigen in dem ich ganz bei dir sein kann. Nouwen
Der Sprung aus der Angst zur Ruhe ist der ungeheuerste, den der Mensch tun kann. Jasper
Ps 102,12: Meine Tage gleichen dem Schatten, der am Abend immer länger wird , ich verdorre wie das Gras.
Ps 102,13: Du aber, Herr, regierst für immer, jetzt und in allen künftigen Generationen wird man dich ehren.
Das Aber markiert eine Wende, einen Gegensatz zur bisherigen Klage, denn nun wendet sich der Beter ab von seiner Not und wendet sich zu seinem Gott. Sobald das einer tut, weicht das Dunkel dem Licht und wird aus Kummer Zuversicht, denn wir wissen: Gott steht auf. Er wird sich erheben. So kommt er den Seinen zur Hilfe. Ohne diesen Glauben können wir nicht Gnade begehren, ohne Beugung sie nicht empfangen, ohne ein von sehnsüchtiger Liebe entbranntes Herz sie nicht schätzen, ohne Lauterkeit keinen Nutzen aus ihr ziehen. Zeiten tiefer Not aber tragen sehr dazu bei, diese Vorbedingungen der Gnade in uns wachsen und ausreifen zu lassen.
Ps 102,14: Du selbst wirst dich erheben und dich der Stadt Zion voll Erbarmen zuwenden, denn es ist an der Zeit, ihr gnädig zu sein. Ja, der Zeitpunkt dafür ist gekommen.
Ps 102,17: Denn der Herr wird Zion wieder aufbauen und dort erscheinen in seiner Herrlichkeit.
Menschen bekehren, die als lebendige Steine dem heiligen Bau eingefügt werden, diese zum heiligen Dienst erziehen, die Bruderschaft lehren, erleuchten und heiligen, alle mit den innigen Banden christlicher Liebe aneinanderketten, und den ganzen Leib mit der Kraft des Heiligen Geistes erfüllen – das heißt Zion bauen. Die Herrlichkeit wird erscheinen. Die Sonne ist auch am düstersten Tag herrlich, aber ihre Herrlichkeit erscheint erst, wenn sie die Wolken zerstreut hat, die sie den Blicken der unteren Welt verhüllen. Gott ist herrlich, auch wenn die Welt ihn nicht sieht. Aber seine Herrlichkeit erscheint, wenn die Herrlichkeit seiner Gnade und Treue in der Errettung seinem Volkes durchbricht .
Ps 102,18: Er wird sich dem Gebet der Verlassenen wieder zuwenden, ihre Bitten wird er nicht zurückweisen.
Er wendet sich zu dem, der keine Würde hat und der keine Kraft hat. Erst die Einsicht, dass wir ganz hilflos, ganz blind, ganz arm sind, wirft uns allein auf Gott. Solch ein Entblößter weiß, wie er beten soll. Er braucht dazu keinen Lehrmeister. Und das Gebet des Glaubens hat die Verheißung, dass es erhört werde. Er wird ihr Flehen nicht geringschätzig behandeln. Er wird sein Ohr zum Hören neigen, sein Herz zum Erwägen und seine Hand zum Helfen. Welch ein Trost liegt hierin für diejenigen, die sich ganz hilflos und verlassen vorkommen. Wer am eigenen Herzen geistliche Verlassenheit empfunden hat und aus ihr erlöst worden ist, kann das nimmer vergessen. Er muss und wird sie weiter erzählen
Ps 102,19: Dies soll man aufschreiben für eine spätere Generation, und so wird ein Volk, das erst noch geschaffen wird, den Herrn preisen.
Ps 102,20-21: Der Herr blickt vom Himmel auf die Erde, um das Seufzen der Gefangenen zu hören, um die Todgeweihten zu befreien.
Solches tut er im Wirken seiner Vorsehung, indem er Bedrängte rettet, Todkranken die Gesundheit wiederschenkt und Verschmachtenden Speise gibt. Auf dem geistlichen Gebiet aber geschehen ebensolche Wunder der Barmherzigkeit durch die freie Gnade, die uns durch die Vergebung von dem Todesurteil, das die Sünde über uns gebracht hat, errettet und durch die trostreiche Verheißung von der tödlichen Verzweiflung befreit, welche die Erkenntnis der Sünde in uns hervorgerufen hat.
Ps 102,22: So werden sie in der Stadt Zion wieder den Namen des Herrn verkünden, seinen Ruhm verbreiten in Jerusalem.
Ps 102,26: Du hast am Anfang das Fundament der Erde gelegt, und auch der Himmel ist das Werk deiner Hände.
Wir können nicht einmal unser eigenes Leben erhalten, geschweige denn anderen Leben geben. Der Herr aber ist nicht nur selbst, sondern ist auch der Schöpfer all dessen. Darum haben wir keinen Grund zum Verzweifeln, denn der Allmächtige und Ewige kann uns doch wieder aufrichten. Himmel und Erde werden vergehen, du aber bleibst. Die Tage vergehen. Du aber bleibst, der Du bist. Denn Du bist der Höchste, Du änderst Dich nicht! Alles Geschaffene wird verwandelt, Gott aber ist unwandelbar, und seine Jahre enden nicht. Alles, was morgen kommt und später, alles, was gestern war und früher: Du wirkst es heute. Du hast es schon heute gewirkt.
Ps 102,28: Du aber bleibst immer derselbe und deine Zeit wird kein Ende haben.
Das war eine Auslegung und ein Kommentar zum Psalm (Ps) 102